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Wir nehmen die Ausreden der Bundesregierung #UnterDieLupe

5 Ausreden der Bundesregierung zum Schutz von Afghan_innen in Not und wie du kontern kannst

Innerhalb weniger Wochen haben über 35.000 Menschen unseren Appell an die Bundesregierung “Afghanistan: Schutz für Menschen in Not!unterzeichnet. Gemeinsam fordern wir: “Österreich muss gefährdete Personen aus Afghanistan aufnehmen und sich an internationalen Resettlement-Programmen beteiligen!”. Wir haben bei den zuständigen Minister_innen der Regierung um einen Termin gebeten, um ihnen die Forderungen im Namen der Unterstützer_innen zu übergeben. Doch anstatt Terminvorschlägen erhielten wir aus dem Bundeskanzleramt (BKA) und dem Innenministerium (BMI) eine Stellungnahme – mit genau denselben Argumenten, die Kurz, Nehammer und Co in den letzten Wochen schon äußerten. Wir kennen sie vielleicht auch aus Gesprächen im Bekanntenkreis. Einer Überprüfung halten sie allerdings nicht stand – wir haben sie für euch unter die Lupe genommen:

Ausrede Nr. 1: “Wir haben schon so viel getan”

 

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“Österreich hat bisher wesentlich mehr getan als viele andere Staaten zusammen”: Das teilt uns das BMI mit. Wir sagen: Hilfeleistung, zu der wir laut Genfer Flüchtlingskonvention verpflichtet sind, ist kein Wettbewerb! Es hat mit der Verantwortung zu tun, anderen zu helfen. Hilfeleistung sollte nicht von anderen Staaten abhängig gemacht werden: Wenn ich sehe, wie jemand ertrinkt, sage ich auch nicht „aber die anderen helfen auch nicht“ – nein, ich springe ins Wasser und helfe. Erst recht, wenn niemand anderes etwas tut.

Die Realität österreichischer Hilfeleistung sieht allerdings anders aus. Im internationalen Vergleich ist sie spärlich: Laut OECD war Österreich 2020 bei der Entwicklungshilfe bei nur 0,29% des Bruttonationaleinkommens und somit nicht einmal annähernd an den vereinbarten 0,7% [1]. Umso dreister ist es, dass sich Kurz und Co mit dieser Zahl sehr stark in den Medien rühmen.

Das Innenministerium schreibt, “dass Österreich zu den am stärksten belasteten Ländern der Europäischen Union zählt.” Es wird so getan, als wäre Hilfeleistung eine Belastung. Wirklich belastet und gefährdet sind allerdings in erster Linie Menschen, die gerade vor einem Terror-Regime fliehen.

Ausrede Nr. 2: “2015 darf sich nicht wiederholen”

Das BKA stellt klar, dass sich die Ereignisse von 2015 nicht wiederholen dürfen. Wir sind auch der Meinung. Es sollte kein Mensch flüchten müssen. Wir sind stolz darauf, 2015 geholfen zu haben und werden es wieder tun. Was sich nicht wiederholen darf, ist das Versagen der Politik, auf Krisen adäquat zu reagieren und Schutzsuchenden zu helfen.

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Ausrede Nr. 3: “Es leben schon so viele Afghan_innen hier”

“Österreich hat, bezogen auf die Einwohnerzahl, weltweit die viertgrößte afghanische Gemeinschaft, innerhalb der europäischen Union die zweitgrößte”.

Die vom BMI genannten Zahlen erscheinen zuerst groß. Insgesamt kommt jedoch nur etwa ein halbes Prozent der Menschen in Österreich aus Afghanistan [2]. Mit der klaren Darstellung einer „afghanischen Community“ oder Gemeinschaft schaffen Nehammer und Co bewusst eine Abgrenzung zwischen „denen“ und „uns“ – diese Taktik nennt sich „othering“ und dient dazu, Ängste zu schüren. Allgemein fragen wir uns: Wieso ist diese Zahl ein Argument dagegen, Menschen, die jetzt in Not sind und Schutz suchen, Hilfe zu leisten?

Ausrede Nr 4: “Die integrieren sich nicht”

Ein weiteres Argument des BMI ist:

“Die Erfahrungen von 2015 haben deutlich gezeigt, dass Migration ohne gelungene Integration nicht funktioniert”.

Wir fragen dazu: Wessen Aufgabe ist denn die Integration? Und wessen Aufgabe war sie 2015? Seit 34 Jahren [Anmerkung: ausgenommen Übergangsregierung nach Ibiza-Skandal] ist die ÖVP in der Regierung und für Integration zuständig.

“Trotz intensiver Bemühungen gibt es jedoch noch immer große Schwierigkeiten bei der Integration von vielen, die in Österreich Schutz bekommen haben.”

Das BKA spricht damit Baustellen in der Integration an, die seit Jahren hinreichend bekannt sind – zuständig war und ist die ÖVP. Sie haben bewusst keine Maßnahmen gesetzt bzw. sogar bestehende gestrichen und somit Integration verhindert, wie die Deutschkurse unter Schwarz-Blau 2018 [3].

“In einer Studie des ÖIF zeigt sich beispielsweise, dass 54 Prozent der befragten jugendlichen Afghanen Gewalt als legitimes Mittel zur Wiederherstellung von Ehre und Respekt sehen und 55 Prozent der afghanischen Jugendlichen finden, dass Vorschriften des Islam über den Gesetzen der Republik Österreich stehen.”

Was das BMI nicht erwähnt ist, dass die Studie auch zu dem Ergebnis kam, dass “rund drei Viertel der jungen Afghan/innen davon überzeugt [sind], dass Gewalt grundsätzlich nichts bringt und mehr Probleme verursacht, als sie löst.” [4]

Integration wird von Entscheidungsträger_innen häufig als einseitig angesehen: Personen, die in ein Land kommen, haben sich zu integrieren. Integration ist allerdings ein zweiseitiger Prozess. Auch die Regierung und die Bevölkerung im Aufnahmeland haben ihren Beitrag zu leisten. Besorgniserregend ist dabei die steigende Islamfeindlichkeit in Österreich. Befeuert wird sie durch die rassistische und islamfeindliche öffentliche Debatte, die durch Politiker_innen immer wieder angeheizt wird. Die besagte ÖIF Studie brachte hervor, dass 63% der befragten Afghan_innen Diskriminierung erfahren haben. Als Hauptgrund für die erfahrene Diskriminierung wird die Religion genannt [4].

Abschiebung scheint die einzige Lösung zu sein, die die ÖVP sieht. Das Bundeskanzleramt informiert uns:

“Österreich wird die weiteren Entwicklungen in Afghanistan jedenfalls genau verfolgen und weiterhin darauf drängen, Alternativen auf EU-Ebene zu finden – so hat etwa Innenminister Karl Nehammer beim Sonderrat der EU-Innenminister Abschiebezentren in den Nachbarstaaten von Afghanistan vorgeschlagen.”

Noch vor einem Monat sagte Nehammer: „Wenn Abschiebungen aufgrund der Grenzen, die uns die Europäische Menschenrechtskonvention setzt, nicht mehr möglich sind, müssen Alternativen angedacht werden“ [5]. Jetzt möchte uns Kurz die Abschiebezentren als humanitären Akt verkaufen. Man will sich hier aus der Verantwortung stehlen, echte Hilfe, die eine Zukunftsperspektive für schutzsuchende Menschen aus Afghanistan bietet, sieht anders aus.

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Ausrede Nr. 5: “Hilfe vor Ort”

Das Innenministerium erklärt:

“Doch selbst die Genfer Flüchtlingskonvention sieht vor, dass verfolgten Menschen im nächsten sicheren Land möglichst nahe der Heimat geholfen werden soll.“

In der Genfer Flüchtlingskonvention steht davon allerdings nichts.

“Die Europäische Union muss die Außengrenzen schützen und Schlepper, die aus dem Leid anderer ein Geschäft machen wollen, mit allen Mitteln bekämpfen.”

Das BKA fordert also Außengrenzen zu schützen und Menschenleben nicht? Schlepper bekämpft man am besten, indem man sichere und legale Fluchtwege schafft. Daher fordern wir die Beteiligung an internationalen Resettlement-Programmen!

Zum Abschluss verkündet das BMI:

“Das Gebot der Stunde lautet Hilfe vor Ort, auch um den Menschen den gefährlichen Weg nach Europa zu ersparen …”

Österreichs Hilfe vor Ort war jedoch bisher mangelhaft: Wir erinnern uns an die “Hilfe vor Ort” für Moria, die nie angekommen ist [6]. Die riesigen Flüchtlingslager an den Grenzen zu Konfliktländern sind seit Jahrzehnten überfüllt. Menschen haben dort keine Perspektive auf ein lebenswertes Leben.

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“… und um unser Sozial- und Bildungssystem sowie unsere Gesellschaft als Ganzes nicht zu überfordern.”

Es ist eine Unterstellung, dass wir als Gesellschaft mit der Integration von schutzsuchenden Menschen überfordert wären. Viele von uns engagieren sich und leisten einen wertvollen Beitrag, damit ein gutes Zusammenleben klappt. Geflüchtete können sich ein lebenswertes Leben aufbauen und Teil unserer Gesellschaft werden – vorausgesetzt, man lässt sie und stellt Möglichkeiten zum Ankommen und zur Teilhabe zur Verfügung. Es gibt genügend Beispiele, die zeigen, dass Integration gelingen kann. Doch anstatt sie zu fördern schränkt die Bundesregierung die Mittel ein – sie wollen nicht helfen und tun jetzt so, als würden wir nicht helfen wollen.

Wir bleiben laut!

Diese Argumente führen uns die menschenverachtende Politik von Kurz, Nehammer und Co vor Augen. Sie versuchen uns mit fadenscheinigen Rechtfertigungen abzuspeisen, während Afghan_innen verzweifelt versuchen das Land zu verlassen um sich vor dem Schreckensregime der Taliban in Sicherheit zu bringen.

Wir lassen uns von diesen Floskeln nicht davon abhalten, Schutz für Menschen in Not zu fordern!

Was du tun kannst: Diwa Safi arbeitet im Asylbereich, ist in Afghanistan geboren und lebt seit vielen Jahren in Österreich. Mit ihr haben wir in unserem Podcast über die derzeitige Situation in Afghanistan und die aktuelle Flüchtlingspolitik gesprochen und wie wir Menschen aus Afghanistan unterstützen können. Jetzt Folge anhören!

Klicke auf den folgenden Button, um den Podcast-Player von Podigee zu laden:

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Quellen:
[1] moment.at: Hilfe vor Ort: “Österreich ist kein Vorreiter, sondern Schlusslicht”
[2] Der Standard, 07.09.2021: Faktencheck: Wie viel Geld Österreich für Hilfe vor Ort ausgibt
[3] Der Standard, 03.08.2018: Kein Geld mehr vom Bund: Wien halbiert Anzahl der Deutschkurse
[4] integrationsfonds.at: Forschungsbericht | Junge Menschen mit muslimischer Prägung in Wien
[5] Der Standard, 16.08.2021: Nehammer will bei EU-Treffen Abschiebezentren in der Nähe Afghanistans vorschlagen
[6] Der Standard, 27.08.2021: Faktencheck: Was wurde aus Österreichs Hilfe vor Ort auf Lesbos?

Flora ist Campaignerin bei #aufstehn und unterstützt das Team bei der Erstellung und Durchführung von Kampagnen. Sie ist seit Jahren in den Bereichen Frauenrechte und Gender tätig und engagiert sich ehrenamtlich auch in anderen Vereinen. Zudem macht sie derzeit ihren Master in Gender Studies.